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Sturms Flora von Deutschland, Band 3: Echte Gräser (Gramineae) – Tafel 8

Haargras, Stipa capillata L.
Federgras, Stipa pennata L.

Haargras, Stipa capillata L.
Taf. 8, Fig. 1:
a, b) oberer Halmteil mit Rispe;
c) Aehrchen;
d) Hüllsp.;
e) Blüte mit Spelzen;
f) Blüte;
g) Aehrchen mit Frucht.
Dichte Rasen bildend; Halme steif, 40 bis 90 cm hoch. Blätter blaugrün, steif aufrecht, auf der Oberseite mit höheren und niederen Riefen. Rispe am Grunde von der obersten Blattscheide umschlossen; Aehrchen oft schwärzlich; Grannen dünn, zuletzt hin und her gebogen; Stiel der Decksp. (Callus) sehr hart und spitz, nach einer Seite hin etwas gebogen und mit aufwärts gerichteten Börstchen besetzt, ad. 7 und 8.
Haar- und Federgras sind für die Steppe „Charakterarten ersten Rangs“; sie gehören in den ungarischen Puszten und den südrussischen Grassteppen zu den häufigsten Gräsern, in den Sandsteppen zu den Pionieren, die mutig in die Flugsandflächen vordringen. Das Haargras kommt in Deutschland zerstreut an sonnigen Abhängen vor, fehlt im nordwestlichen Teile desselben sowie in Elsass-Lothringen. Dem sonnigen Standort entsprechend, sind die Blätter aufwärts gerichtet, damit die Sonnenstrahlen ihre Flächen weniger intensiv treffen. Bei feuchter Witterung sind sie offen, die Oberseite dem Lichte zugänglich. Bei Regen nehmen die am Grunde der Rinnen (zwischen den Riefen) befindlichen dünnwandigen Zellen Wasser direkt auf. Bei Trockenheit aber falten sich die Blätter: die derbere, von Spaltöffnungen freie Unterseite ist dem Luftzug ausgesetzt, während die aus grünem Gewebe bestehende Oberseite und die an den Seiten der Rinnen liegenden Spaltöffnungen geschützt sind; dadurch wird die Verdunstung des Wassers bedeutend vermindert.
Der Wind führt die mit langer Granne ausgestatteten leichten Früchtchen fort; mit ihrer harten Spitze bohren sie sich in die Kleider der Menschen, in das Fell und den Körper der Weidetiere, den letzteren nicht selten den Tod bringend. „Die Nadel der Puszta“ ist den Hirten mit Recht verhasst.
Federgras, Stipa pennata L.
Taf. 8, Fig. 2: Frucht mit Granne.
Dem vorigen ähnlich. Halm 40 bis 80 cm hoch; Blätter meist borstenförmig, blaugrün. Rispe zusammengezogen‘, anfangs ganz in der obersten Blattscheide steckend; Aehrchen gelblich grün, glänzend; Stiel der Decksp. mit steifen Seidenhaaren besetzt; Granne mit federartig abstehenden, milchweissen, zarten Haaren besetzt. ad. 5 und 6.
Das Federgras, auch Reihergras, Marienflachs, Steinfeder, Steinflachs und in Ungarn „Waisenmädchenhaar“ genannt, kommt in Deutschland ebenfalls nur zerstreut vor, fehlt im nordwestl. Teile und im Königreich Sachsen, liebt namentlich Kalk- und Sandboden und wächst auf Hochebenen, an sonnigen Abhängen und Felsen. Die Blüten sind homogam; Fremd- und Selbstbestäubung ist gleich möglich. Die Granne des Federgrases ist eine ausgezeichnete Flugvorrichtung. Weil sie stark hygroskopisch ist und auch vom Wind leicht hin und her bewegt wird, führt das Früchtchen, am Boden liegend, bohrende Bewegungen aus und wird noch leichter als die Frucht des Haargrases immer tiefer in die Erde getrieben.
Die Steppe „gewährt einen reizvollen, zauberhaften Anblick, wenn zur Blütezeit im Mai das leuchtende Gold der warmen Frühlingssonne über das flutende, silberne Grannenmeer hinzittert, wenn es der Glanz des Mondes bald mit bleichen, bald mit violetten Lichtern magisch verklärt, wenn es die purpurne Morgenröte gleichsam in Ströme roten, wallenden Blutes verwandelt“. „Die ersten blühenden Halme sammelt der junge Rossoder Rinderhirt und bringt sie seinem Lieb als Zeichen ewiger Treue. Er selbst aber schmückt mit den langen weissen Fäden des Reihergrases seinen Hut.“
„An dem Hute trag‘ als Schmuck ich Einen Strauss von Waisenmädchenhaar. Eine Waise ist das Mädchen, Das ich liebe ewig, treu und wahr. Jenes hab‘ ich auf der Puszta, Auf der Puszta mir gepflückt, Dieses wählt‘ ich mir im Dorfe, Weil’s mein ganzes Sein beglückt.“ (Fr. Wönig, Die Pusztenflora.)
Aus: J. Sturm’s Flora von Deutschland, Nachdruck nach 1900 mit Chromolithographien (Ernst H. L. Krause: Schriften des Deutschen Lehrer-Vereins für Naturkunde).