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Der Sehnerve von einem Kalbskopf
Bild aus: Ledermüller, Mikroskopische Gemüths- und Augen-Ergötzungen, Tafel 51

Hier geht es um „Den Sehnerve von einem Kalbskopf“. Ledermüllers umfangreicher Text dazu zeigt den Stand der damaligen Diskussion um das Wesen der Nerven:
Es sind die Gelehrten, besonders die Lehrer der Zergliederungskunde noch nicht einstimmig: Ob die Nerven hohle Röhren haben oder nicht? Einige glaubten, sie wären vest und nicht hohl; andere vergliechen sie mit denen spanischen oder Zuckerröhren; wenige hielten sie für hohl; die meisten aber lebten dießfalls in einer unzufriedenen Ungewißheit, und meynten, daß einige hohl andere aber dichte und nicht hohl wären.
So erklärte z. E. Severinus die Sehnerven, Willis auch die Geschmacknerven und Thomas Bartholinus beede zugleich für hohl. Cartesius, der mit einem eben so lebhaften Geist als vieler Erfahrung geschrieben, macht eine der richtigsten Beschreibung von ihnen also: „Die Nerven sind ein Bindel vest zusammengefügter Röhrlein, deren „ jedes mit einem äussern und innern Häutlein überzogen und umfaßt ist, und welche sämmtlich aus denen beeden Gehirrnmüttern, entspringen und fortlauffen.“
Der seel. Herr Prof. Heister, beschreibt sie als lange, schlanke, runde Theilchen, (partes teretes) die weiß und Fiebern oder Fasern ähnlich sind, und statt einer flüßigen, eine solche geistiche Materie in sich haben, welche aus dem feinsten Ausfluß des Gehirrns bestehet, und daß man sie also nicht für blosse Fiebern, sondern für wahre Gefäßlein halten könnte. Er führt 1o. starke Beweggründe an, die ihme dieses zu glauben verursachen, von welchen ich aber nur den einigen vierten hier anmerken will:
„Weilen nemlich derjenige Theil des Leibes, von welchem eine Nerve abgesondert oder ausgeschnitten wird, alsobald zu leben, zu empfinden und sich zu bewegen aufhöret, auch keine Nahrung mehr erhält, so folge ganz richtig, daß in der abgetrennten Nerve ein Lebensgeist oder etwas dergleichen müsse gewesen seyn, das den nun abgestorbenen Theil, genährt und die Empfindung und Bewegung ihme zuvor gegeben habe.“
Mein unschätzbarer Gönner, Titl. Herr Hofrath und Leib-Medicus Treu, dessen klugen Verordnungen und unermüdeter Sorgfalt und Liebe ich es nächst Göttlichen Seegen zu danken schuldig bin, daß ich nun das zweyte Funfzig dieser Mikroskopischen Beobachtungen anfangen kan, da ich nimmermehr glaubte, das Erste vollenden zu können, vergleicht die Nerven mit der Beschaffenheit derer stiele an denen Obstfrüchten, und glaubt, daß dasjenige was man für Oefnungen oder als hohl in denen Nerven ansiehet, nur die Zwischenräumchen wären. (Interstitia) Und gleichwie durch diese ebenfalls ein Saft in die Frucht dringen könne, die übrigen Fasern aber in dem Stiel nicht hohl, sondern zu einem andern geheimen Dienst von der Natur bestimmt wären, also könne es auch gleiche Bewandnus mit dem Sehnerven haben, als welcher hier den Stiel, das Aug aber die Frucht vorstellet. So verschieden nun diese Meynungen alle sind, die ich sämmtlich der Beurtheilung meiner hochgeneigtesten und werthesten Leser billig zu überlassen habe, so einstimmig ist hingegen der Lehrsatz ihrer Bestimmung, welcher in das Kurze gefaßt, dahin gehet, daß die Nerven darzu dienen: „Allen übrigen äusserlichen und innerlichen Theilen des Leibes, ihre Nahrung, ihr Leben, ihre Empfindung und Bewegung zu verschaffen.“
Sie sind also diejenigen edlen und unschätzbaren Werkzeuge, durch welche unser Geist und unsere Seele bewegt und getrieben wird. Durch sie empfinden wir freudige, muntere, traurige und verdrüßliche Leidenschaften. Ihr Ursprung kommt aus dem Kopf, aus dem Gehirn, und daher denken wir durch sie. Aber ach! wie viel unglückseelige Würkungen bringen sie nicht auch ausser und inner dem Menschen hervor. So sind z. E. Krampf, Gicht, Hiftweh, hinfallende Sucht, Dummheit, Schläfrigkeit, Mattigkeit, Taubsucht, Blindheit, Schlag, Verlust des Geschmacks, Wahnsinn, Raserey, die Kriebelkrankheit und alle diese entsetzliche Uebel, bittere Früchte, welche die Nerven diese erschreckliche Folterwerkzeuge für den Menschen leider! hervor bringen.
Ich will noch, ehe ich die Erklärung des Kupferblattes anfange, einer der merkwürdigsten Geschichte aus dem ersten Band der neuesten Verhandlungen der Kayserlichen Akademie der Naturforscher übersetzen und meinen g. L. hier mitteilen.
Ein Handlanger bey denen Zimmerleuten, hat sich von ohngefehr einen eisernen Nagel der vertical oder schreg in einem auf der Erde gelegenen Balken steckte, in die sohle des rechten Fusses gestossen, und dadurch die sohlennerve gewaltsam verletzet. Die Folge davon ware ein höchst empfindlicher schmerz und eine abscheuliche Geschwulst des Fusses und des ganzen Beins und schenkels, welches ihm untüchtig machte aufzutretten, dahero er sich von seinen Mitgesellen mußte nach Hause tragen lassen. Allda brachte man ihn zwar auf ein Bette, alleine er konnte nicht wie andere Kranke, nach der Länge gerad auf demselben liegen. Die verletzte Nerve verursachte in ihm einen solchen erschrecklichen Krampf, daß sie auch die grosse Ruckgradnerve zusammengezogen und den umsº Lºs
Menschen in die Gestalt eines halben Zirkels gekrümmt hatte; so daß er 16. Täge und Nächte auf dem hintersten Theil des Kopfs denen beeden Ellenbogen und de nen äussersten Enden der Fersen, wie ein gespannter Bogen zubringen muste. Hierbey verschloß ihm der Krampf alle natürliche Ausgänge der Blase und des Magens, ohne daß man mit einiger Arzney ihme helfen können. Bis endlich nach 16 Tagen der Todt ihme die einige Errettung aus diesem verzweiflungs vollen Zustand verschafte. Nach seinem Absterben hat man den gebogenen Kör per mit vieler angewendeten stärke zwar gerade drücken und biegen wollen, es ware aber alle Mühe vergebens gewesen. Dahero man auch denselben in dieser betrübten Gestalt lassen und den sarg nach dem Körper hochgewölbt, fertigen las sen müssen, um solchen beerdigen zu können.
Der gelehrte Herr Verfasser dieser Beobachtung merkt hierbey vortreflich an, daß Einfältige, welche sich zur schande der Wundarzeney, ihre Befliessene nen nen, diesen gräßlichen Anblick einer Verzauberung zuschreiben wellen: Und zeigt ihnen, daß wenn sie nur die Nervenlehre besser begriffen hätten, so würden sie gar bald eingesehen haben, daß ganz natürlich und keinesweges übernatürliche Ursachen diesen an sich erschrecklichen Zufall bewürken müssen. Indeme einem je den Anfänger der Zergliederungskunde bekannt seyn muß, daß die Nerve in der sohle, aus dem Rückmarkentspringe, unter dem Namen des grossen Ischiadischen Nervens durch das Heilgebein, den schenkel und das ganze Bein hinab durch den Fuß fortlauft, und sich in denen Zehen desselben endiget, folglich auch diese Würkung wegen des Zusammenhangs aller dieser Nerven (propter consensum) ganz begreiflich habe erfolgen können.
Wie nun aber aus dieser Geschichte und tausend andern dergleichen betrübten Zufällen leicht zu begreiffen ist, daß von einem würdigen Priester der Hygea al lerdings erfordert werde, die Nerven, so eine grosse Menge ihrer auch sind, äus serlich und innerlich auf das genaueste zu kennen, so haben es sich auch daher nicht nur viele grosse Gelehrte, sondern ganze Akademien und gelehrte Gesellschaften Äseyn lassen, ihre wahre Gestalt und Beschaffenheit auf das gründlichste zu entdecken. –
schon Galenus hat vermeynt, es müsten hierzu grosse Thiere genommen werden, weilen er nach dem Zeugnus Bartholins, die sehnerve eines Rindes hohl gesehen.
Allein die Erfahrung hat in der neuern Zeit gewiesen, daß die grösten Thiere diese Hofnung nicht gewähret haben. Denn als im Jahr 1727. die Kayserliche Akademie der Wissenschaften zu Petersburg die Nerven eines Elephantens unter suchte, so sind solche erstlich nicht grösser als anderer unserer Landthiere Nerven und dann auch nicht hohl befunden worden.
Ich zweifle, daß damalen schon die kirschkornförmigen Vergrösserungsglässer Numer 1. o. und Null Null, oder eine zweymalhunderttausendmalige Ver grösserung in Petersburg bekannt gewesen ware, welche man doch haben muß, wenn man erkennen und finden will, daß die Nerven hohl sind. Nachstehende kurzgefaßte Erklärung dieser 51sten Kupfertafel, deren um ständliche Beschreibung in Numer II. des 27sten stücks der fränkischen samm lungen befindlich ist, wird solches des mehrern bestärken.
Als ich vor länger als einem Jahr in Erlang mit Titl. Herrn Hofrath und Professor Delius, meinem Hochgeschätzten Gönner, von denen Nerven zu sprechen Gelegenheit hatte, und schon damalen solche hohl zu seyn glaubte, wurde mir von ihme angerathen diese Beobachtung recht sicher und gewiß anzustellen – und öfter als einmal zu wiederholen. Ich befolgte diesen wohlgemeynten Rath ge nau, und untersuchte zu dem Ende den sehnerven eines Kalbsauges. Anfänglich übersah ich die Oberfläche des abgeschnittenen Nervens nur mit einem suchglaß Nummer 7. entdeckte aber schon viele kleine Löchlein, auf denen ein Milch ähnli cher dicker weisser saft gestanden. s. a. Hierauf schnitte ich mit einer Lanzette ein sehr dinnes scheibchen b. ab, und beobachtete es mit dem Handmikroskop durch das Glaß Nummer 3. wodurch ich eine Menge weisser Kugeln und einiger ausgesprungener Röhrchen entdeckte, auf deren vordersten Mündung ebenfalls dieser dicke Milchsaft zu sehen ware. s. e. Ferners schnitte ich ein stückchen von dem Nerven a. perpendikular ab, s. d. untersuchte es mit dem Vergrös serungsglaß Nummer o. und sahe einen Bindel aneinander liegender Röhren e. von denen einige noch den Milchsaft oben auf ihrer Mündung stehen hatten, wie bey f. angezeigt habe, bey andern Röhren aber, ware dieser saft schon tiefer hinunter gesunken, so daß man von oben etwas hinunter in die Röhren sehen köns nen. s. g.
Alles dieses zeichnete ich sorgfältig anf und legte es bey Gelegenheit Herrn Hofrath Delius, da ich eben in Erlangzuthun hatte, zur Beurtheilung vor. Ohn geachtet ich nun nichts wenigers als einen weitern Zweifel oder Einwurf erwar tete, so hielte der Herr Professor doch noch dafür, daß diese Röhren nur die Zwi schenräumchen (die Interstitia) der Nerven seyn könnten.
Nun sahe ich zwar die Möglichkeit dieser Zwischenräumchen gar wohl ein, alleine ich ware doch heimlich mißvergnügt, daß diese Beobachtung sogar vielen Widersprüchen und mühsamen Betrachtungen unterworfen seyn sollte, und warf bey miner Nachhaussekunft den ganzen Kram in einen Winkel , mit dem Vor satz, mich nimmermehr mit dieser Beobachtung weiters abzugeben.
Einige Zeit hernach nöthigten mich meine eigenen Nerven, daß ich abermals die Hülfe meines unschätzbaren Gönners, des Herrn Hofrath Trews suchen „Ä Bey diesem gütigen Besuch erfolgte zugleich die Unterredung von denen Nerven. Ich suchte meine alte Zeichnung hervor, um auch dieses vortreflichen Zergliederes erfahrne Gedanken darüber zu vernehmen: Und dieser berühmte Arzt sagte, wie ich oben schon erwehnte, eben das was Herr Hofrath Delius mir entgegenzusetzen belieb te, daßnemlich diese Röhren nur die Zwischenräumchen, gleichwie in den stielende rer Früchte seyn könnten; Andürren Nerven aber würden sich gründlichere Entdeckun gen machen lassen c. Kaum hatte sich mein Aeskulap entfernt, so suchte ich nach, ob ich meine alten Kälberaugen nicht wieder finden mögte, und meine Bemühung ware nicht vergeblich gewesen. Ich fande sie beede, aber so hart wie Horn. sogleich un tersuchte ich die beeden Oberflächen des einen perpendikular zerschnittenen sehner vens, und entdeckte schon mit Nummer 5. eine menge perpendikular sehr genau ne beneinander liegender braungelber Fäden. Ich nezte das eine Theil mit Wasser, und brachte mit einer starken Nadel durch behutsames Ritzen und Heben, glücklich zu wege, daß einige dieser Fiebern aussprangen und sich in die Höhe richteten, wie bey h. in natürlicher Grösse zu sehen ist. Von diesen sich abgesonderten Nervenfiebern schnitte ich ein paar stückchen ab, legte sie in schieber i. und beobachtete selbige durch mein bestes Vergrösserungsglaß Nummer 0 o. als lange hohle Röhren, welche mit nichts bessers verglichen werden können, als mit denen Kopfhaaren des Menschen s. k. k. Indeme man auch das sehr feine Gewebe und Gefechte ihrer äussern Haut sowohl als die nach der Länge perpendikular durchlauffende helle Röh re, gleichwie an denen Haaren gar deutlich erkennen kan. Welches alles ich auch an der Nerve des Muckenfliegels s. Tab. LIII. fig. c. vollkommen richtig beobachtet habe.
Ob man nun aber gleichwohlen noch an ihrem Hohlseyn zweiffeln könne, über lasse ich der unpartheyischen Prüfung derer g. L.